TOTALSCHADEN

“Polizei Hamburg, guten Abend Frau Krasemann” – höre ich eine männliche Stimme am Telefon. “Ihr Smart mit dem Kennzeichen HH-XY-559E ist in einen Unfall verwickelt. Ihr parkendes Fahrzeug wurde von einem SUV beschädigt – der Unfallverursacher hat den Tatort verlassen. Bitte kommen Sie umgehend zu Ihrem Auto, ein Beamter ist bereits vor Ort“.….“In Ordnung,…..ich….. komme”, stammele ich und lege auf.

Für ein paar Sekunden fühle ich eine völlige Leere im Kopf. Leicht benebelt höre ich mich zu meinem Mann sagen: “Unser Smart wurde von nem SUV gerammt und der Fahrer hat Fahrerflucht begangen”. Während ich den Satz ausspreche, fällt langsam der Groschen und mir wird die Tragweite des Anrufs bewusst. Vor meinem inneren Auge sehe ich unseren vier Monate alten Neuwagen – als Totalschaden. Ich bin wütend und mein Gehirn spult in Sekundenbruchteilen alle nur erdenklichen SUV-Klischees ab: Egomane Großstadt-Snobs, die sich rücksichtslos mit süffisantem Lächeln ihren Weg durch den Großstadtverkehr erzwingen und dabei Jagd auf Kleinwagen machen. Wer den Schaden hat, darf zahlen. In diesem Fall also ich, da sich der Fahrer vom Unfallort entfernt hat.

Leicht panisch verlasse ich die Wohnung in Richtung Tatort – in völliger Ungewissheit, was mich wohl erwartet. Als ich mein Fahrzeug erreiche, begrüßt mich ein überaus höflicher Streifenpolizist mit einem mitfühlenden Lächeln und stellt mir zwei unglaublich sympathische junge Frauen vor. Zwei Zeuginnen, wie sich herausstellt, die sich extra nach ihrer Yogastunde noch die Zeit genommen haben die Polizei zu rufen, weil sie den Unfall beobachtet haben. Der Fahrer des SUV ist bereits ermittelt und auf dem Weg, die Schuldfrage eindeutig: 100% SUV-Schuld, womit die Versicherung den kompletten Schaden übernehmen wird, inklusive Ersatzwagen. Ich bin sowas von erleichtert. Zum Abschuss reicht mir der „böse” SUV Fahrer, der inzwischen am Unfallort eingetroffen ist, versöhnlich die Hand und versichert mir, sich um alles zu kümmern. Schöner kann man nicht in einen Unfall verwickelt werden.

Sobald wir uns bedroht oder ausgeliefert fühlen, schalten wir automatisch in den Drama-Modus, lassen unseren paranoiden Gedanken freien Lauf und fangen an zu bewerten. Trotz aller Nervereien übersehen wir dabei die Möglichkeit, dass vielleicht doch auch etwas Positives mitschwingen kann. In diesem Fall die Courage und das Engagement für Gerechtigkeit – eine Haltung, die ich jedem von uns wünsche. 

Wenn wir es schaffen diesem “Drama-Reiz” zu widerstehen, indem wir unsere Gedanken überprüfen und in Frage stellen, dann entsteht neuer Raum, den wir mit etwas Konstruktivem füllen können – und genau hier liegt unser Wachstum und unsere Freiheit.

Übrigens ist aus dem vermeintlichen Totalschaden ein sehr netter Kontakt zu den Zeuginnen entstanden. Das Leben ist eben voller wundersamer Überraschungen.

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